Ostern: Die Frauen am leeren Grab (Matthäus 28,1–10)

Meister von Hohenfurth: Auferstehung Christi (vor 1350)

«Nach dem Sabbat, beim Anbruch des ersten Tages der Woche, kamen Maria aus Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Und siehe, es geschah ein gewaltiges Erdbeben; denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat an das Grab, wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Sein Aussehen war wie ein Blitz und sein Gewand weiß wie Schnee. Aus Furcht vor ihm erbebten die Wächter und waren wie tot.
Der Engel aber sagte zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier; denn er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht euch den Ort an, wo er lag! Dann geht schnell zu seinen Jüngern und sagt ihnen: Er ist von den Toten auferstanden und siehe, er geht euch voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt.
Sogleich verließen sie das Grab voll Furcht und großer Freude und sie eilten zu seinen Jüngern, um ihnen die Botschaft zu verkünden.
Und siehe, Jesus kam ihnen entgegen und sagte: Seid gegrüßt! Sie gingen auf ihn zu, warfen sich vor ihm nieder und umfassten seine Füße. Da sagte Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht und sagt meinen Brüdern, sie sollen nach Galiläa gehen und dort werden sie mich sehen.»

Gedanken zum Bibeltext:

Liebe Mitglaubende

Es gibt Bibelstellen, vor denen habe ich eine grosse Scheu, man kann auch sagen Angst oder Ehrfurcht, mich ihnen zu nähern. Sie sind zu gross, zu steil, zu felsig. Für einen Bergsteiger wie die Eigernordwand. Diese Bibelstelle ist eine solche. Ich fühle mich als modernen Menschen: aufgeklärt, mit einem grossen Vertrauen in die Forschung, in das Wissen der Menschen. Und ich stehe als Seelsorger immer wieder vor offenen Gräbern und weiss, hier werden die sterblichen Überreste in wenigen Minuten ruhen und Staub kehrt zum Staub zurück.

Und dann kommt die Geschichte von der Auferstehung Jesu. Wie er leibhaftig vor den Frauen erscheint:
«Jesus kam ihnen entgegen und sagte: Seid gegrüßt! Sie gingen auf ihn zu, warfen sich vor ihm nieder und umfassten seine Füße.»
Da gibt es nichts zu deuteln: sie umfassen sogar seine Füsse. Er ist leibhaftig wieder da, von den Toten auferstanden.

Mein moderner Verstand sträubt sich mit allen Fasern gegen diese Geschichte und ist versucht, sie umzudeuten: Das ist nur symbolisch oder innerlich gemeint. Er ist nicht wirklich lebendig, in ihrem Geiste ist er wieder lebendig. Zugleich weiss ich aber, dass ich mit dieser Deutung absolut gegen die Absicht des Evangelisten verstosse. Denn Matthäus will uns genau das sagen: Er ist wirklich leibhaftig von den Toten auferstanden. Sie umfassen seine Füsse, und Thomas legt später seinen Finger in die Wundmale Jesu.

Da sind wir bei der Eigernordwand. Kein Felsvorsprung, an den ich mich mit meinem modernen Verstand halten könnte. Keine Ritze, wo ich meine Hände für Halt hinlegen könnte. Ich hänge in der Luft und komme nicht weiter. So geht es mir, und so geht es Ihnen vielleicht auch. Wie können wir diese Geschichte verstehen? Wie können wir sie in Einklang bringen mit unserer menschlichen Vernunft?

Wir können es eben nicht!

Ja, was machen wir nun?

Mir kommt eine Stelle im Korintherbrief in den Sinn: «Für jetzt bleiben Glauben, Hoffnung, Liebe, diese drei. Doch am grössten unter ihnen ist die Liebe.» (1 Kor 13,13) Wir haben kein Wissen. Wir werden nie wissen, wie das mit der Auferstehung geschehen ist und geschieht. Nein, aber wir haben einen Glauben. Ein Glaube weiss nicht, er glaubt eben. Und wir haben eine Hoffnung: eine Hoffnung, dass das Gute siegen wird, dass wir nicht verlorengehen. Und vor allem: Wir haben die Liebe, das grösste Gut. Sie hilft mir, die Eigernordwand des Glaubens doch noch zu erklimmen. Sie hilft mir über die Abgründe hinweg. Die Liebe ist die einzige Kraft, die stärker ist als der Tod. Der Tod triumphiert über unsere äussere Welt, über unseren Reichtum, über unser Ego, und über das meiste Andere. Aber die Liebe ist stärker. Die Liebe ist auch stärker als mein Verstand, ohne diesen deshalb ausser Kraft zu setzen.

Ich bin machtlos, wenn moderne Menschen mir sagen: «Es gibt keine Auferstehung. Wenn ich sterbe ist alles aus. Also lebe ich vernünftig und geniesse das Leben, soweit es mir möglich ist.» Nach menschlichem Verstehen haben sie absolut recht. Und trotzdem regt sich in meinem Innern Widerstand. Es gibt eine andere Ebene in mir, die Ebene des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Und diese drei sagen mir:
Geliebter Mensch, bleibe dir treu und glaube an die Liebe, die Jesus von Nazareth vorgelebt hat.

Und so freue ich mich zuinnerst über Ostern. Im Wissen, dass mein äusserer Mensch weiterhin den Zweifeln unterworfen ist. Ich freue mich, dass es eine solche frohmachende Botschaft gibt, an die ich mich halten kann. Und ich bin weiterhin bereit, den Spagat zu machen: als moderner Mensch die Ergebnisse der Wissenschaft und der Forschung zu akzeptieren und gleichzeitig als glaubender Mensch mich an die Botschaft von Ostern zu halten: Jesus lebt!

Halleluja, Halleluja!

Ich wünsche Ihnen von Herzen gesegnete frohe Ostern!

Erich Jermann