Der gute Hirte (Joh 10,1-10) – Sonntag, 3. Mai 2020

Der gute Hirte

 Mosaik im Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna (430 n.C.)

Jesus erzählte seinen Jüngern ein Gleichnis:

«Amen, amen, ich sage euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. Ihm öffnet der Türhüter und die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus.

Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen.

Dieses Gleichnis erzählte ihnen Jesus; aber sie verstanden nicht den Sinn dessen, was er ihnen gesagt hatte. Weiter sagte Jesus zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.»

Predigtgedanken:

In den Mosaiken von Ravenna findet sich ein wunderschönes Bild von Jesus als Schafhirten, und nicht als der Mann, der am Kreuz hängt. Jesus als der gute Hirt – ein liebliches Bild, das später oft kitschig verwendet wurde. In Israel gab es viele Hirten. Die Menschen lebten von der Wolle und vom Fleisch der Schafe. Man könnte sagen: Das Bild ist veraltet, antiquiert, stammt aus der Zeit der Nomaden. Das ist längst vergangen.

Wenn wir in die Geschichte des letzten Jahrhunderts schauen, sehen wir dass dieses Bild von Jesus überhaupt nicht veraltet war sondern eine zentrale Stellung einnahm in Zeiten der Nazi-Bedrängnis. 1934, als das Nazi-Regime am Aufkommen war, formierte sich eine kirchliche Bewegung unter Leitung des Schweizer Theologen Karl Barth, die sich klar von der bedrohlichen Ideologie des Nationalsozialismus abgrenzte. Es bestand die Gefahr, dass die ganze Kirche umkippte und sich dem Nationalsozialismus unter Hitler anschloss. Im berühmten «Barmer Bekenntnis» stützten sich die Theologen auf diesen Johannestext von Jesus dem Schafhirten. Sie schrieben:

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und Räuber. Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden.

„Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“

Damit grenzten sie sich ab gegen andere selbsternannte Erlöser, gegen Hitler und seine Gefolgsleute.

Dieser Bibeltext ist nicht antiquiert, veraltet, sondern immer noch hochaktuell. Auch heute gibt es selbsternannte Erlöser, die den Menschen das Blaue vom Himmel versprechen und sich selber als einzig mögliche Heilsbringer darstellen. Viele bekannte Namen könnten angeführt werden: Politiker, die immer mehr Macht für sich beanspruchen, oder Wirtschaftsbosse, die das Wohl der Menschheit nur noch in der Gewinnmaximierung sehen und sich längst vom guten alten «Patron» entfernt haben, dem das Wohlergehen der Angestellten genauso wichtig war wie der geschäftliche Erfolg.

Karl Barth und die Barmer Theologen zeigen uns: Es gibt Zeiten, da ist ein Bekenntnis notwendig. Das gilt auch für unser ganz persönliches Leben:

Es gibt Krisen, da sind wir herausgefordert zu sagen, wo wir stehen, was wir für gut und richtig anschauen. In diesen Wochen ist das ganz besonders der Fall. Ängste drohen überhand zu nehmen, Ermüdungser-scheinungen machen sich bemerkbar. Wo ist da das Gute? In der Welt und in meinem persönlichen Leben?

Als Christen haben wir unseren guten Hirten, wir kennen seine Stimme und wir vertrauen ihm. Er tritt ein für soziale Gerechtigkeit, für die Würde jedes einzelnen Menschen, für das Durchbrechen der Klischees: Hier die Guten, Leistungsfähigen – dort die Schlechten, Faulen, Versager. Der gute Hirte Jesus hat viele Normen durchbrochen Menschen vor den Kopf gestossen, weil es ihm darum ging, Menschen die verlorene Achtung und Würde zurückzugeben. Deshalb ist er schliesslich auch am Kreuz gestorben. Der gute Hirte schützt uns aber auch vor lähmender Angst, vor den inneren Stimmen, die uns niederdrücken und nur noch das Dunkle sehen. Seine Stimme gibt uns Trost, Kraft und Frieden.

Behalten wir dieses tröstende, kostbare Bild in unserem Herzen: Jesus als der gute Hirte, der uns kennt, der uns beim Namen ruft, der uns keine Bedingungen stellt sondern einlädt, einzutreten durch die Türe, die er selber ist. Und wenn wir durch diese Türe treten, kommen wir nicht in einen dunklen, unbeschützten, kalten Raum, kein Gefängnis, sondern in eine Begegnung mit Gott, der die Liebe in Person ist.

Am Schluss, wenn alle unsere geistigen Kräfte versagen, wenn wir vor den letzten Fragen stehen, oder wenn wir in einer grossen Krise nicht mehr weiter wissen, dann stellen sich solche Bilder ein. Bilder haben ja eine andere Tiefe, erreichen uns in den seelischen Gründen unseres Wesens. Das Bild des guten Hirten, der uns beschützt, begleitet und nie im Stich lässt gab vielen Menschen Kraft in schwerer Zeit – und gibt noch heute Kraft allen Menschen, die bereit sind, sich diesem Hirten anzuvertrauen. Möge der liebe Gott uns helfen, dass wir immer wieder Ja sagen können zu diesem guten Beschützer und Begleiter! Amen

Erich Jermann