Bibelauslegung zum Sonntag, 19. April 2020

Der ungläubige Thomas begegnet dem Auferstandenen
(Joh 20,19-31)

Buchmalerei aus der Devotionale Abbatis Ulrici Rösch: Christus erscheint dem Thomas, um 1472 (?), in der Stiftsbibliothek in St. Gallen

«Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.

Thomas, der Didymus genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.

Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.

Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen.»

(Joh 20,19-31)

Liebe Mitglaubende

Immer wenn der hl. Thomas zum Zug kommt, freue ich mich. Irgendwie fühle ich mich ihm wesensverwandt. Ich möchte verstehen, wissen, begreifen – und gerade bei den letzten Fragen um Tod und Auferstehung renne ich da gegen eine Wand. Mir gefällt dieses Bild aus der Stiftsbibliothek St. Gallen: Alle anderen Jünger staunen Jesus an, haben den Blick nur auf ihn gewendet, als wären sie Wissende. Einzig Thomas zweifelt, möchte wissen, streckt seine Finger Jesus in die Seite um sich zu überzeugen, dass es wirklich stimmt. Man kann es auch anders lesen: Die anderen Jünger stehen selbstbewusst neben Jesus und sind wie gefesselt von ihm, in Trance. Der einzige, der in Demut kniet, ist Thomas! Er gibt uns das Beispiel, wie wir Jesus begegnen können: in Demut, im Wissen, dass wir Suchende und Zweifelnde sind und dass wir deshalb immer wieder auf die Gnade Gottes angewiesen sind.

Die anderen Jünger, die Jesus anstaunen, glauben einfach. Schön. Und wir, die wir das erste Mal, als Jesus erschien, nicht dabei waren? Wir zweifeln. Wir haben es nicht so einfach wie die übrigen Jünger, die ihn schon einmal gesehen haben. Wir sind auch Kinder der Aufklärung. Wir haben einen guten und wachen Verstand, der für so vieles gut ist. Mit diesem Verstand wollen wir wissen, begreifen, und immer weiterfragen – ein Credo der modernen Forschung und Wissenschaft. Sollen wir nun ein schlechtes Gewissen haben, weil wir zweifeln? Ganz sicher nicht! Wir dürfen – wie der Vater des besessenen Sohnes – vor Gott hintreten und sagen: «Ich glaube, hilf meinem Unglauben!» Wir sind ehrlich und stehen dazu, dass wir bei den letzten Fragen hilflos und verloren sind.

Man kann die Thomas-Begegnung mit Jesus auf zwei Arten deuten:

Der Evangelist Johannes will uns sagen: Glauben ohne zu wissen ist das Bessere. Nehmt euch ein Beispiel an den übrigen Jüngern, nicht an Thomas. Sie glauben, ohne dass sie den Finger in die Seite legen müssen.

Es gibt aber auch eine andere Deutung, die mir viel näher liegt: Auch der ungläubige Thomas, der für viele moderne Menschen steht, auch er wird in den Kreis der gläubigen Jünger aufgenommen. Sein Zweifeln darf Platz haben.

Und damit kommen wir zu einer Erkenntnis, die für mich ungemein befreiend ist: Bei Gott, im Himmel, in der Begegnung mit dem Auferstandenen, hat unser Vergleichen, unser Besser-Sein-Wollen, unser Ehrgeiz keinen Platz mehr. Es kommt gar nicht mehr darauf an. Denn alle sind wir mit dabei: die Wissenden und die Zweifelnden, die Richtig-Glaubenden und die Hilflos-Suchenden, die Besserwisser und die Demütigen. Dabei haben die Demütigen den Vorteil, dass sie um die menschliche Art wissen. Sie knien, wie Thomas, vor Jesus, und bilden sich nicht ein, alle religiöse Weisheit für sich gepachtet zu haben.

Wenn die Liebe siegt, haben all diese menschlichen Spiele und Kämpfe um die besten Plätze keinen Platz mehr, sie werden nebensächlich. Denn Gott kennt uns mit unserem Glauben und unseren Zweifeln, und beides darf Platz haben!

Freuen wir uns also mit allen Jüngern, dass Jesus lebt! Und wenn wieder Zweifel in uns auftauchen, so lassen wir sie kommen und nehmen sie an. Denn sie sind Teil von uns, bei allem Wollen können wir sie nie ganz loswerden. Und so dürfen wir getrost sagen:

Ich glaube, hilf meinem Unglauben!

Amen

Erich Jermann